Eine Reise in die Vergangenheit Floridas
Der Ranger gibt dem Kanu einen kräftigen Stoß, dann sind wir in der breiten Fahrrinne, die vom Steg zum Suwannee River führt, zur Hauptverkehrsstraße in einem noch immer schwer durchdringlichen Dschungel aus Zypressenwäldern und dichtem Unterholz. Im unruhigen Fahrwasser geht es langsam stromaufwärts. Der Fluss macht ungeübten Kanuten auf die Dauer zu schaffen. Wir hangeln uns in Ufernähe Meter um Meter nach vorn, verlassen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die breite Wasserstraße und steuern auf einen der Seitenarme zu.
Hier steht das Wasser beinahe still, stiehlt sich unmerklich langsam nur zwischen Wurzelgeflecht, Gräsern und Totholz hindurch. Das Blaugrün des Flusses wird durch das Dunkelbraun einer schlammigen Brühe ersetzt, die im ersten Augenblick an eine Kloake erinnert, doch voller Leben steckt. Ein Informationsblatt des Foster State Historic Park listet alleine 54 Reptilien und 60 Amphibienarten auf. Dazu kommen Fische, Säugetiere und zahlreiche Vögel. Lautlos gleitet das Boot durch die beständig enger werdende Fahrrinne, über uns vereinigen sich die Kronen der Zypressen zu einem geschlossenen Wald. Von den Zweigen hängen die büscheligen Rauschebärte des Spanish Moss - das sind mit der Ananas verwandte Epiphyten. Sie verleihen den Wäldern ein gespenstisches Aussehen.
Wohin man auch schaut, von allen Seiten fallen einem die schaurig schönen Wälder ins Auge, weil die starke Reflektion des schwärzlich-braunen Trübestroms einem gewaltigen Spiegel gleich, das Abbild des Zypressendschungels allseitig zurück schmettert. Ungläubig kreisen unsere Blicke während unser Kanu scheinbar schwerelos zwischen Kronen und Unterholz dahinzusegeln scheint.
Einige querliegende Äste bringen uns schlagartig auf die Erde zurück, unterbrechen jäh die unbekümmerte Fahrt. Wir überwinden sie im zweiten Anlauf, doch im Nachhinein erscheinen sie wie ein Fingerzeig der Natur, solch ungestümes Vordringen endlich einzustellen. Die Wasserrinne fasst jetzt gerade noch das Kanu. Die Paddel stochern mühsam im Grund, doch sie bewegen kaum noch das kühle Nass. Gräser, Wurzeln und kleine Sandbänkchen bremsen uns aus. Es ist Zeit umzukehren und erneut den Fluss aufzusuchen. Wann immer die gerade Begrenzungslinie des »Suwannee« zu den Seiten hin ausbricht, kleine Basins einrahmt, nutzen wir die Gelegenheit. nach der Attraktion dieses Sumpflandes - den Alligatoren - Ausschau zu halten.
Eine Mischung aus ängstlicher Vorsicht und kindlicher Neugier beschleicht uns, als die erste Echse am gegenüberliegenden Flussufer auftaucht. Das Fehlen jeglicher Barriere, jeglicher Sicherheitsvorkehrung, die den Menschen von dem nicht ganz ungefährlichen Reptil gewöhnlich trennt, übt einen unverkennbaren Reiz aus. Es ist erst Anfang März, die Quecksilbersäule pendelt um 20 C. Alligatoren mögen von wärmeren Zeiten träumen. Jetzt liegen die wenigen, welche überhaupt den Fluss aufsuchen träge auf Baumstämmen, in seichten Schlammbuchten oder am Fuße wellenumspülter Zypressen. Die Handvoll Touristen, die sich während des Winters hierher verirren, scheinen sie kaum aus der Ruhe zu bringen, deren aufgeregte »Ohhhs« und »Ahhhs« gehören inzwischen zum Alltag in den Sümpfen.
Mit dem Kanu nähern wir uns einem der kräftigen Tiere, verweilen in 8 oder 10 Metern Entfernung, erwarten angespannt eine Reaktion des Herrschers dieser Wildnis. Der denkt zunächst gar nicht daran, seinen wohlig in der Sonne ruhenden Körper unseretwegen zu erheben. Erst als wir die Distanz noch ein wenig verringern, strömt Leben in den scheinbar so plumpen ledernen Haufen. Der Alligator erhebt sein Haupt von dem im Wasser liegenden, abgestorbenen Zypressenstamm, welchen er eben noch fest umklammerte, dreht den Kopf auf uns zu und reißt drohend das Maul auf, ob unseres unverfrorenen Vordringens.
Die Gebärde hat im ersten Augenblick etwas Lächerliches, doch die Glieder signalisieren Alarmstellung, das Tier ist bereit in Sekundenschnelle ins kühle Nass einzutauchen, im Trübestrom Zuflucht zu suchen. Uns erschreckt die plötzliche Betriebsamkeit derart, dass wir nun hastig den »Rückwärtsgang einlegen. Der Umgang mit den Echsen braucht einige Erfahrung, wir waren zu ungestüm, ließen unserer Neugier freien Lauf, achteten weder auf die eigenen Sicherheitsbedürfnisse noch auf die unseres Gegenüber. Das Obiekt der Begierde rutscht elegant ins Wasser und ward von nun an nicht mehr gesehen. So sensibilisiert, streifen unsre Blicke nun unablässig über die Wasserfläche, spähen nach Artgenossen des soeben verschwundenen Tiers.
Ort des Geschehens ist das Okefenokee Swamp, ein ausgedehntes Sumpf- und Marschland im Südosten Georgias, unmittelbar an der Grenze zu Florida gelegen. Okefenokee bedeutet: »Land der bebenden Erde«. Das meint nun nicht Erdbeben im eigentlichen Sinne, sondern Erschütterungen des Bodens, welche entstehen, wenn man heftig auf diesem herumtrampelt oder schnellen Schrittes über denselben eilt.
Der Mensch hat »Okefenokee« durch eine künstliche Grenze dem Staatsgebiet Georgias einverleibt. Wer aber die Entwicklung Floridas in den letzten 200 Jahren verfolgt, der wird bald feststellen, dass Okefenokee mehr mit dem südlichen Nachbarn als mit seiner heutigen Heimstatt gemein hat. In der Tat ist es einer der wenigen Plätze, an denen das ursprüngliche Florida erhalten geblieben ist. Bis in die 1820er Jahre befand sich der Südostzipfel der heutigen USA gewissermaßen in einem Dornröschenschlaf. Zwar bereisten die Spanier die Küste schon sehr früh - Ponce de Leon landete am Ostersonntag 1513, also nur 21 Jahre nach Kolumbus und verlieh der Region den Namen Pascua Florida, was etwa Blühendes Osterfest meint. Hierauf Bezug nehmend, ist der Pascua Florida Day am 2. April heute übrigens ein gesetzlicher Feiertag im Bundesstaat Florida.
In Besitz nehmen konnten die Spanier nach 1513 bestenfalls einige schmale Küstensäume, das Landesinnere blieb unberührt. Auch als die US-Amerikaner die Herrschaft über Florida antraten, beschränkte sich dies lange Zeit auf das Verwahren von Besitzurkunden. Noch dreihundert Jahre nach der Landung der Spanier galt Pascua Florida als unbezwingbar, passte sich der Mensch, passten sich die Ureinwohner der Natur an. Die wenigen Siedlungen der Weissen fielen nicht ins Gewicht. Unter der Präsidentschaft Andrew Jacksons (1829–1837) sollte sich das Bild Floridas drastisch ändern. Jackson, ein Kämpfertyp aus dem Grenzland, wollte wenigstens das Land bis zum Mississippi befrieden, die Indianer in Gebiete jenseits des großen Stroms umsiedeln. So geschah es beispielsweise mit den Cherokee weiter im Norden.General Winfield Scott marschierte im Auftrag des Präsidenten 1837 mit mehreren tausend Mann nach Georgia ein, ergriff alle Cherokee, derer er habhaft werden konnte und deportierte sie in das damalige Oklahoma-Territorium. Bei dem langen Marsch nach Westen verhungerte und erfror ein Drittel der Gefangenen. Auch die Stämme der Halbinsel, insbesondere die kriegerischen Seminolen, gedachte man auf ähnliche Art loszuwerden. Entweder sie würden sich in ihr Schicksal fügen oder alle ermordet werden.
Zunächst versuchte die Regierung in Washington den schon bewährten Vertragspoker durchzuziehen. Häuptling Osceola, den die Weißen einmal durch eine List überwunden hatten, traute jedoch keinem Handel mehr und sann auf Rache. Jeden seiner Stammesbrüder, der es wagte, mit dem »Weißen Mann« Verträge abzuschließen, verfolgte er unbarmherzig. So kam es unweigerlich auch hier zum Krieg.
Die Auseinandersetzungen zwischen den Seminolen und den Soldaten aus Washington währten 8 Jahre, die Indianer waren in der tückischen Sumpflandschaft zunächst jedem Angreifer weit überlegen. Auf einen toten Seminolen kamen zahlreiche getötete Soldaten, 7 Generäle ruinierten ihr Ansehen. 20 Millionen Dollar kostete der Krieg - eine unglaublich hohe Summe für jene Zeit. Letztlich erging es den Ureinwohnern Floridas aber nicht anders als den übrigen Stämmen, sie wurden besiegt, getötet, starben an Hunger und eingeschleppten Krankheiten - ein kümmerlicher Rest schaffte es bis in die Reservation.
Aus Angst, die Seminolen könnten sich neu formieren, begann man nach dem Krieg große Teile des Landes trocken zulegen. Dem Indianertod folgte ein Artensterben in Tier- und Pflanzenwelt. Märchenhaft anmutende Zypressen- und Mangrovenwälder wurden für immer vernichtet. Mit dem Sieg über die Seminolen und die lebensfeindlichen Sümpfe war der Weg für eine Besiedlung der Halbinsel durch US-Amerikaner frei. Immer tiefer fraß sich die weiße Zivilisation nun in das Zentrum des Sonnenlandes vor. Die urwüchsige Landschaft wurde zu den Everglades im Süden hin sowie nach Nordwesten und Norden abgedrängt. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts drohte den letzten naturbelassenen Arealen im Grenzgebiet Florida/Georgia das Aus.
Im Jahre 1891 erwarb die »Suwannee Canal Company« 240.000 acres (ca. 1.000 km², 1 km² = 247 acres) des heutigen Okefenokee Swamps vom Staate Georgia. Die Firma beabsichtigte, das ganze Gebiet trocken zu legen, um so die schier endlosen Holzreserven zu erschließen. In drei Jahren harter Arbeit entstand der 18 Kilometer lange Suwannee Canal, der bis zum heutigen Tage das gesamte Gebiet entwässert. Offensichtlich überstiegen die Kosten für den Einschlag und Abtransport des natürlichen Reichtums der Region den zu erzielenden Gewinn, jedenfalls ging die Firma in Konkurs. Der Waldbesitz fiel nun an die Hebard Cypress Company, die sich auf die Verwertung des Zypressenholzes konzentrierte und bis zum Jahre 1927 dem Swamp gewaltige Mengen davon entriss. Dieses Ausbeuten der natürlichenRessourcen war weder neu, noch auf das relativ kleine Areal des Okefenokee Swamps beschränkt - vielmehr hatte es schon bald nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865 im ganzen Land verstärkt eingesetzt. Der Wiederaufbau, die Erschließung des »Westens« und die beginnende industrielle Revolution forderten ihren Tribut. Was aus heutiger Sicht als hemmungsloser Raubbau empfunden würde, galt in jener Zeit als Pioniertat und Pioniertaten rechtfertigten so ziemlich alles. Solches Tun rief aber auch kritische »Geister« auf den Plan. Früher als in Europa erkannte man die Notwendigkeit, Teile des Landes in ihrem ursprünglichen Zustand zu belassen. Einen ersten großen Triumpf feierte dieses neue Denken bereits im Jahr 1872, als im fernen Wyoming der erste Nationalpark der Welt - der Yellowstone Park - entstand. Die Idee, bestimmte Flächen in der einmal vorgefundenen Art und Weise zu belassen, ließ sich im »unbesiedelten« Westen leichter realisieren. Doch die Einrichtung des Yellowstone Parks hatte Initialzündung. Immer neue Areale wurden danach unter Schutz gestellt, viele in Nationalparks umgewandelt. In den dreißiger Jahren schlug endlich auch die Geburtsstunde des Okefenokee Swamps. Eine Fläche von rund 400 000 acres (ca. 1.600 km²) wurde in einem Naturschutzgebiet zusammengefaßt. Solch weitsichtiges und zukunftsorientiertes Handeln einiger weniger Verantwortungsbewusster dürfte im krisengeschüttelten Amerika jener Zeit kaum großes Aufsehen erregt haben. Doch schon dreißig Jahre später - mit dem Aufkeimen des Tourismus nach dem zweiten Weltkrieg, avancierte »Okefenokee« mehr und mehr zum beliebten Ausflugsziel der US-Amerikaner.
Obwohl die Zahl der bundesdeutschen Amerikaurlauber stark angestiegen ist und Florida bekanntermaßen zu den beliebtesten Ferienzielen der Touristen zählt, entschließen sich relativ wenige zu einem Abstecher in das Naturreservat. Dabei beträgt die Entfernung von Orlando kaum mehr als 300 Km, das entspricht in etwa jener nach Miami. Von Kindesbeinen an mit Donald Duck und Mickey Mouse vertraut, vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral und dem karibischen Flair der »Coral keys« fasziniert, finden die Besucher nur den Weg ins Zentrum der Halbinsel und von dort direkt in den sonnigen Süden, wo Betonburgen die Natur immer weiter zurückdrängen. Kaum jemanden interessiert es, wie das Land ausgesehen haben mag, bevor die Tampas, Orlandos, Miamis in ihrem unermesslichen Durst den Lake Okeechobee - das bedeutendste Wasserreservoirdes Staates - und damit auch den Everglades Nationalpark bedrohten.
Für all jene, die nicht nur des faul in der Sonne liegens wegen nach Florida fahren, die in ihrer Freizeit Eigeninitiative entwickeln, Natur pur erleben möchten und auch ein wenig Nervenkitzel nicht scheuen, ist ein Ausflug in das Okefenokee Swamp sicher eine Bereicherung. Das 60 km lange und 40 km breite Areal ist heute über Zugänge im Norden, Osten und Westen erschlossen. Es untersteht dem U.S. Fish and Wildlife Service. Dieser betreibt in Zusammenarbeit mit Privaten Konzessionären verschiedene Freizeiteinrichtungen wie Campingplatze, Rastplätze, Wanderwege etc. Wanderer werden den Ost- oder Nordeingang vorziehen - hier gibt es zahlreiche Trails, welche die »Prairie« - das offene Marschland - erschließen. Die »Prairie« entstand durch Großfeuer in Zeiten extremer Trockenheit. Wälder und hochliegende Bereiche der Torfschicht verbrannten, wurden durch Grasland und Tümpel ersetzt. Dieses Gelände ist reich an Amphibien, Kleinreptilien und Vögeln. Am Westeingang hat der Staat Georgia auf 82 acres des Schutzgebietes einen State Park errichtet. Um diesen gruppieren sich eine ganze Reihe von Seen. Die hier befindlichen Seitenkanäle führen tief in die düsteren Zypressenwälder, die Mehrzahl der Alligatoren ist in diesem Teil von Okefenokee zuhause. Die Parkverwaltung versucht den unterschiedlichen Interessen der Besucher durch ein differenziertes Freizeitangebot gerecht zu werden. Das reicht von einstündigen, rangerbegleitetenTouren bis zu mehrtägigen Kanuausflügen auf eigene Faust. Abenteuerlustige können tief in die Sümpfe eindringen, Tage in der völligen Abgeschiedenheit dieser Wildnis verbringen. Am Osteingang des Naturschutzgebietes bietet ein Konzessionär vom Kanu über Zelt, Kochgeschirr, Ofen und portable Toilette alles nur erdenkliche Zubehör für das Gelingen eines zünftigen Ausflugs in die Vergangenheit Floridas an. Wanderer, Angler, Hobbyfotografen, Naturliebhaber alle kommen voll auf ihre Kosten. Nur Zeit und ein wenig kindliche Neugier sollte man schon noch selbst mitbringen.
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