USA - Der mittlere Westen

Ein bisschen wehmütig brechen wir die Zelte im Great Smoky Mountains NP ab, orientieren uns gen Westen, dabei einen weiten Haken nach Süden über Maryville, Vonore und Loudon schlagend um dem Verkehr von Knoxville auszuweichen. Bei Harriman kreuzt die 72 den nach Nashville führenden Interstate 40. Damit ist Angelika von ständigem Karten lesen befreit, doch nun folgt stundenlanges ödes Fahren. Fast wie an Gleise gefesselt geht es immer geradeaus, vorbei an Käffern, von denen eines dem anderen zu gleichen scheint, die man vermutlich austauschen könnte, ohne dass es jemand bemerkte. Die grüne Wald- und Buschlandschaft, welche südlich des Shenandoah NP, in Wolken getränkt, etwas Aufregendes hatte, wirkt im gleißenden Sonnenlicht trist und monoton. Wir sind dem Einschlafen nahe.

 

Die Sirene einer Polizeistreife reißt uns aus allen Träumen. Wie aus dem Nichts taucht der Wagen hinter uns auf, zieht links rüber und nimmt die Verfolgung eines PKW auf, der vielleicht 10 oder 15 Meilen zu schnell fuhr. Dabei macht er ein Trara, als hätte der Verfolgte wer weiß was ausgefressen. Angelika und ich atmen erst einmal tief durch, als die Streife vorbei ist.

 

Bei Lebanon verlassen wir die Interstate, um in einem State Park mit dem wohlklingenden Namen "Cedars of Lebanon" das Nachtlager auf­schlagen. State Parks unterstehen, wie die Bezeichnung schon andeutet, nicht dem Department of the Interior, also dem Innenministerium, sondern werden von den jeweiligen Bundesstaaten in eigener Regie unterhalten. Preislich und vor allem landschaftlich sind sie privaten Campgrounds fast immer vorzuziehen.

 

"Cedars of Lebanon" liegt in einem etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre alten Nadelwald und ist vergleichsweise komfortabel ausgestattet, genau der richtige Park zum richtigen Zeitpunkt. Nach der langen ermüdenden Fahrt heißt es erst mal die Beine vertreten. Es ist später Nachmittag, die glühende Sonne, welche den Van auf dem Interstate in einen Backofen verwandelte, kommt zwischen dem dichten Geäst kaum mehr hindurch. Im Schatten der Bäume ist es jetzt angenehm warm, kaum ein Lüftchen rührt sich, über dem ganzen Gelände liegt ein harziger Duft. Die Stellplätze sind nur zu einem Drittel belegt, wo sich aber Reisende niedergelassen haben, laufen die Grills auf Hochtouren, mischen sich die Wohlgerüche mit Waldesluft und machen uns den Mund wässrig. Bevor der gemütliche Teil des Tages beginnen kann, möchten Angelika und ich noch schnell zu einem der Waschräume, um uns frisch zu machen. Im Waschraum spricht mich ein "Typ" um die vierzig an, meint, sein Name sei Ted, er komme aus Utah. Danach will er wissen, was ich hier so treibe. Ich krame mein bestes Amerikanisch aus der Schub­lade und erzähle ein wenig von unserer bisherigen Reise. Tatsächlich glaube ich einige Zeit meinen Gegenüber über meine Herkunft im un­klaren lassen zu können, offensichtlich haben wir sprachlich in den ersten Wochen einiges dazugelernt. Nach einiger Zeit deutet Ted dann aber höflich an vielleicht doch einen leichten Ak­zent wahrgenommen zu haben. Also gebe ich mich zu erkennen und versetze ihn damit doch etwas in Erstaunen. Dann bin ich aber selbst neugierig, was Ted denn hier so treibt und woher er kommt und der plaudert munter drauf los.

 

Nun, von Beruf bin ich Immobilienmakler. Die Geschäfte liefen lange Zeit glän­zend, da fand ich nie genügend Zeit, um Urlaub zu ma­chen. Gegenwärtig liegt das Business wegen der hohen Zinsen danieder, so habe ich genügend Zeit und kann endlich einmal mit den Kindern durchs Land fahren, ihnen ein Stück Amerika zeigen. Für zwei Wochen bin ich nun Manager einer Country-Band, der auch mein Sohn Ryan angehört. Wir sind auf dem Heimweg von einem Festival weiter im Osten. Die Jungs hatten es satt immer nur zu üben oder ein bisschen Hausmusik zu betreiben oder hier und da mal in einem Hotel die Honoratioren erfreuen zu dürfen. Sie wollten endlich einmal vor einem fachkundigen Auditorium spielen, vor Leuten die mit dem Herzen dabei sind, die ausgelassen und stimmungsvoll ihren Auftritt begleiten. Jetzt konnten sie endlich einmal zeigen, was sie drauf haben. Wir sind alle sehr glücklich, dass wir diese Reise angetreten haben. Übrigens geben wir heute Abend vor unserem Stellplatz ein kleines Country-Concert, ihr seid herzlich eingeladen daran teilzunehmen. Da willige ich doch gerne ein und ver­spre­che, nach dem Abendessen vorbeizuschauen.

 

Den Nachmittag verbringen wir mit Hausputz und Wäsche waschen, dann werfen auch wir den Grill an und so vergeht kurzweilig der Nachmittag und ehe wir uns versehen ist es Abend. Im Dunkeln stapfen wir durch den Wald, langes Suchen erübrigt sich, man braucht nur dem Getuschel der bereits zahlreich versammelten Zuhörerschaft nachzugehen.

 

Die Band, es sind 5 Jungs im Alter zwischen 10 und 15 Jahren, macht noch keine Anstalten die Instrumente aufzunehmen, Gelegenheit also, mit Ted noch ein Weilchen zu plaudern. Ich bewundere sein überdimensioniertes rol­lendes Heim. Komplett eingerichtete Küche bis hin zu Mikrowellenherd und Gefriertruhe, Klimaanlage, Videorecorder, da bleiben kaum noch Wünsche offen. Nicht zu übersehen allerdings auch, dass eine ordnende Hand fehlt. Getreu dem Motto: "Wer aufräumt ist nur zu faul zum suchen", und froh, den fürsorglichen Griffen der Mütter einige Zeit nicht ausgeliefert zu sein, haben die Jungs die Hausordnung kurzerhand außer Kraft gesetzt. Da mag sich der Manager noch so bemühen, bei demokratischen Abstimmungen unterliegt er ein ums andere mal. Hier regiert das Volk.

 

Draußen immer noch aufgeregtes Tuscheln und Schnattern. Für wenige Tage, in den USA beträgt der Jahresurlaub meist nicht mehr als zwei Wochen, aus Tristesse und Monotonie der Arbeitswelt entlassen, blühen die Menschen auf wie die Wüstengewächse im nordamerikanischen Westen nach einem der seltenen Regengüsse. Urlaubseindrücke sprudeln aus den Köpfen, Bekanntschaften werden geknüpft, Adressen ausgetauscht. Da sich die Leute offensichtlich gut unterhalten, gedenkt Ted den Auftritt noch etwas hinauszuzögern, bis auch die Mütter der "Bengels" aus dem nahegelegenen Motel eingetroffen sind. Sie begleiten die Tour mit einem PKW und greifen ihm in unregelmäßigen Abständen unter die Arme. Im Übrigen genießen sie es, weitab von Heim und Herd eigenen Neigungen nachgeben zu können und beobachten amüsiert, wie Ted ihren Flohzirkus hütet.

 

Schließlich ist es soweit! Der Manager treibt seinen Hühnerhaufen zusammen und los geht die Gaudi. One, two, three - Einsatz! Die Country-Band, spielt ohne Unterbrechung mehrere Titel in Folge und bringt die Zuhörer so erst mal in Stimmung. Nach kurzer Ver­schnauf­pause folgen weitere Songs. Die Leute sind überrascht von so viel Fingerfertigkeit und Professionalität in diesem jugendlichen Alter. Fast eine Stunde lang rollt nun Nummer auf Nummer in Richtung Publikum, die Jungs gönnen sich kaum eine Verschnaufpause. Zum guten Schluss verabschiedet sich die Band mit "Orange Blossom Special". Der Fiddler legt sich noch mal mächtig ins Zeug, bringt die "Lokomotive" auf volle Fahrt und reißt das Volk dermaßen mit, dass die letzten Töne im Beifall untergehen. Die Menge klatscht, pfeift, jubelt was das Zeug hält. Der Truppe aus Utah ist es gelungen diesen wenigen, die zufällig am heutigen Tage "Cedars of Lebanon" zu ihrem Nachtlager erwählten einen unvergesslichen Abend zu bereiten.

 

Nachdem alle Instrumente sicher verstaut sind, zieht sich jeder der Jungs in eine andere Ecke zurück, frönt im Stillen irgendeinem Hobby und genießt in vollen Zügen, dass heute niemand die Schlafenszeit festlegt. Angelika und ich sitzen mit Ted, den Müttern und einem Haufen übriggebliebener Bewunderer um einen Holztisch und schwatzen. Mit fortschreitender Zeit wird dieser Zirkel immer kleiner. Zuletzt bleiben nur noch Ted und ich im Halbdunkel des niedergebrannten Holzfeuers übrig. Schon den ganzen Abend schwirren mir die verschiedensten Dinge durch den Kopf, haben sich Fragen angestaut, die ich nun am liebsten alle auf einmal loswerden möchte. Jetzt endlich ist die Gelegenheit gekommen, den Mann aus Utah wie eine Zitrone auszupressen.

 

Wie ich nun erfahre wohnt Ted nicht nur im Mormonenstaat, nein, er ist auch Mormone. Da gibt es gerade im alten Europa viele Klischees, lasse ich ihn wissen. Auch ich hielt Mormonen bisher immer für eine Sekte, hatte zumin­dest nur eine diffuse Vorstellung von deren Tun. Nicht nur in Europa wird einiger Unfug über uns verbreitet, ergänzt Ted, auch hier drüben stoßen wir gelegentlich auf Ablehnung.

 

Am meisten Spaß macht es mir, wenn mich die Leute mit den 5 Jungs und den unterschiedlichen Müttern umherlaufen sehen und dann sofort ihre Schlüsse ziehen. Wenn ihnen dann noch unser Nummernschild ins Auge fällt ist sofort klar, dass das wieder einmal ein Mormone ist, der der Vielweiberei huldigt. Tatsächlich ist es uns erlaubt mehrere Frauen zu heiraten und einige wenige machen davon auch Gebrauch. Aber das ist eine verschwindend kleine Minderheit und gibt es denn nicht auch bei orthodoxen Juden, bei fundamentalistischen Christen oder Moslems solche Auswüchse? Und dürfen wir die dann auch verallgemeinern?

 

Ich bin seit vielen Jahren glücklich und zufrieden mit meiner Frau verheiratet und so geht es auch der Mehrzahl der Mormonen. Es gibt darüber hinaus noch einige Besonderheiten, die man in andern christlichen Kirchen ebenfalls nicht findet, doch der Respekt für andere Religionen bleibt davon unberührt. Besonders dankbar bin ich Ted, dass er nicht, wie andere Amerikaner darauf besteht den einzig wahren Glauben zu haben und missionarisch an mir tätig wird.

 

Im Übrigen konnte ich feststellen, dass Ted über ein ausgesprochen gutes Allgemeinwissen verfügt. Auch politisch ist er recht beschlagen, kämpft für die Sache der Republikaner. Da ergeben sich zwangsläufig unterschiedliche Auffassungen zwischen ihm und mir, doch das schadet der Sache nicht. Durch Ted erhalte ich Einblick in das komplizierte Innenleben von Senat, Repräsen­tan­tenhaus und Präsidentenamt, ebenso in das Mit- aber auch Gegen­ein­an­der der einzelnen Bundesstaaten. Dabei ereifert er sich besonders über die Problematik der Trinkwasserversorgung im semiariden bis ariden Südwesten der USA. "L.A.", sagt Ted ist wie ein Fass ohne Boden. Die versuchen jeden Tropfen Wasser aus den Rockies aufzusaugen. Mit immer weiter nach Nor­den reichenden Pipelines wollen sie jetzt auch an unsere Trinkwasserreser­ven heran. Doch dagegen werden wir entschiedenen Widerstand leisten.

Dem folgt ein Exkurs in die amerikanische Geschichte. Über den Eisen­bahn­bau gelangen wir zum Alltag an amerikanischen Schulen (Teds Frau ist Lehrerin), landen zwischendurch im Europa der Nachkriegszeit, schwappen wieder zurück in die "Staaten" und so geht es ständig hin und her bis in die frühen Morgenstunden. Irgendwann packt uns dann doch die Müdigkeit und so verabschieden wir uns. "Wenn euch euer Weg durch Utah führen sollte, dürft ihr uns gerne besuchen, ruft er mir noch zu, dann trennen sich unsere Wege.

Der Mammoth Cave National Park

Heute haben wir einmal alles richtig gemacht. Statt wie sonst auf den letzten Drücker unser Ziel zu erreichen, um dann festzustellen, dass alle Cam­pingplätze längst belegt sind, erreichen wir den Mammoth Cave National Park bereits am frühen Nachmittag und beziehen einen wunderbar schattigen Stellplatz. Kaum haben wir uns häuslich eingerichtet, erhalten wir Besuch von einem typischen Amerikaner, einem Waschbären. Wir sind offensichtlich in sein Revier eingedrungen und sollen nun unseren Tribut entrichten. Wir aber halten uns strikt an das Fütterungsverbot womit unser Besucher überhaupt nicht einverstanden ist. Und so geht er zunächst zu Angelika, die mit Scheinködern lockt, dann kommt er zu mir, um schließlich erneut sein Glück bei Angelika zu versuchen. Doch mit billigen Tricks lässt er sich nicht lange in die Irre führen. Irgendwelche Scheu braucht er ohnehin nicht abzulegen, denn er hat schlicht keine. Da an unserem Van bei dem schönen Wetter sämtliche Luken geöffnet sind, werden vermutlich einige Wohlgerüche aus unserer Vorratskammer durch die Luft wabern, die wir überhaupt nicht bemerken. Der feinen Nase unseres Besuchers entgeht jedoch nichts und so bewegt er sich zielgerichtet auf unser Fahrzeug zu, schnüffelt hier und schnüffelt dort, wird aber nicht so richtig schlau, wie er denn wohl an die gut gefüllten „Fleischtöpfe“ heran­kom­men könnte und trollt sich wieder in den Wald. Zwei Stunden lang taucht er immer wieder auf, schnüffelt neugierig ums Auto, an den Schlafsäcken, Taschen, Geschirr, belustigt, amüsiert und sorgt für willkommene Abwechslung. Als gar nichts mehr hilft fängt er mit putzigster Mimik und Gestik und sehr ausdauernd an zu betteln, so dass Angelika am liebsten nachgeben würde. Doch ich bremse sie aus, weil ich Sorge habe, dass wir den Kameraden dann nur noch in unserem Wagen haben und wenn der ständig über unser Bett läuft, fangen wir uns am Ende noch Flöhe ein.

 

Davon abgesehen sind wir ja vor allem hier her gekommen um uns ein hoffentlich beeindruckendes Bauwerk der Natur anzusehen und so machen wir uns zunächst einmal auf den Weg ins Besucherzentrum.

 

Unser heutiges Ziel liegt im westlichen Zentral-Kentucky, etwa auf halbem Wege zwischen Nashville/ Tennessee und Louisville/ Kentucky innerhalb eines Kalksteinplateaus. Der Nationalpark umfasst eine Flä­che von gut 200 km² und beherbergt eines der längsten bekannte Höhlen­sys­teme der Erde.

 

Für die Entstehung der Höhle sind im Wesentlichen drei Faktoren verantwortlich (vgl. hierzu auch die nachfolgenden Blockbilder):

 

- Das nach Nordwesten geneigte Kalksteinplateau, das im Be­­reich der Höhle von einer fast wasserundurchlässigen Deckschicht (Chester Hochland) geschützt wird.

 

- Ein südöstlich hieran anschließendes, tieferliegendes Kalksteinplateau (Pennyroyal Plateau), dem diese Schutzkappe fehlt, so dass Niederschläge ungehindert in den Untergrund einsickern und dem Gefälle entsprechend in Richtung Chester Hochland abfließen können.

 

- Der Green River, der als Vorfluter den Zufluss vom Pennyroyal Plateau über das Chester Hochland reguliert und damit auch festlegt, wie lange das Grundwasser über geologische Zeiträume durch ein bestimmtes Stockwerk des Untergrundes fließt.

 

Die aus Sand-, Silt- und Tonsteinen bestehende, nahezu intakte Deckschicht des Chester Hochlands, lässt Oberflächenwässer nur in begrenztem Umfang in den Untergrund eindringen. Dies verhindert eine rasche Abtragung des Hochlands, die geringe Durchlässigkeit er­klärt auch, weshalb Tropfsteinbildungen in der Mammoth Cave nur selten anzutreffen sind. Das Wasser, welches die Höhlensysteme der Mammoth Cave schuf, stammt größtenteils aus den Gebieten südöstlich des Chester Hochlands, denen die Deckschicht fehlt, also dem Pennyroyal Plateau (vgl. hierzu das Blockbild). Hier dringen die Niederschläge in den Untergrund ein und durchlaufen, dem Gefälle entsprechend als unterirdisches Flusssystem die im Karbonzeitalter (vor 350 - 325 Millionen Jahren) entstandenen Flachwasserkalke der Girkin-, Ste. Genevieve- und St. Louis-Formation, um endlich in den Green River zu gelangen. Der Green River regelt als Vorfluter den Wasserstand im Höhlensystem, weshalb die Entwicklung der Höhle eng mit dem Werdegang des Flusses verknüpft ist. Der Fluß schnitt sich im Quartär, also in dem erdgeschichtlich jüngsten System tief in das Kalksteinplateau ein, wobei in einem Zeitraum von vermutlich 2 Millionen Jahren die Höhle entstand.

 

Das Einschneiden des Flusses erfolgte diskontinuierlich. Zeiten verstärkter Ero­sion, in denen das Flussbett rasch an Tiefe gewann, wechselten mit solchen des relativen Stillstands, in welchen der Fluss in einem eingenommenen Niveau längere Zeit verweilte. So bildeten sich innerhalb des Kalksteinpaketes, mehrere von oben nach unten jünger werdende unterirdische Flusssysteme aus, die mit dem weiteren Einschneiden des Green River eines nach dem anderen trocken fielen. Das gegenwärtig tiefste Stockwerk wird von Styx- und Echo River durchflossen.

 

Neben der niveaugebundenen Verweildauer des unterirdischen Flusssystems, entscheidet seine im dreidimensionalen Raum wechselnde, chemische und physikalische Verwitte­rungs­re­sistenz über die Menge des erodierten Materials. Deshalb münden mitunter riesige, vollständig ausgeräumte Kam­mern in schmalste Gänge, durch die man sich mühsam hindurcharbeiten muss, um in die folgende Kammer zu gelangen.

 

Im Visitor Center erfahren wir auch, dass von den über 600 Kilometern kar­tier­ter Strecke nur wenige Kilometer öffentlich zugänglich sind.

Der Green River schneidet sich in das Plateau des Chester Hochlandes ein. Während die Deckschichten des Chester Hochlandes östlich des Green Rivers relativ dicht sind, gelangt Niederschlagswasser über das tieferliegende und von schützenden Deckschichten weitgehend befreite Pennyroyal Plateau in den Untergrund, löst den Kalk und führt ihn zum Fluss hin ab. Durch örtlich wechselnde Klüftigkeit und Inhomogenitäten in der Gesteinszusam­men­setzung entstehen unterhalb des Chester Hochlandes erste Hohlräume, die sich nun fortlaufend erweitern. Zunächst trägt das Gestein noch die Deckenlast, mit fortschreitender Kalkabfuhr kommt es irgendwann jedoch zum Einsturz ganzer Deckenabschnitte, die ebenfalls vom Fluss weggeführt werden und es bilden sich riesige Kammern aus. An der Erdoberfläche entstehen Erdfälle und Dolinen. Das ur­sprüng­liche Plateau ist aber noch weitgehend intakt.

Im Laufe der Zeit hat sich der Fluss tief in das Hochland eingeschnitten. Das geschah jedoch nicht gleichförmig sondern mal langsamer und mal schneller. In Zeiten, in denen der Fluss länger auf einem Niveau verweilte, wurden die dabei durchspülten Gesteinshorizonte weitgehend ausgeräumt, un­ter­irdisch entstanden teilweise groß­vo­lumige Kammern. Auch die Dolinen nahmen an Zahl und Größe zu, manche wurden mit Laub oder to­ni­gem Sediment abge­dich­tet und es entstanden kleine Seen. Der Fluss schafft Steilwände, natürliche Höhleneingänge, isolier­te Plateaus. Aus der ur­sprüng­lich mono­tonen Hochebene wächst so eine vielgestaltige Land­schaft, die der Tier- und Pflan­zenwelt eine Fülle unterschiedlichster Lebens­räume eröffnet. In höher ge­le­genen und bereits trockengefallenen Niveaus bilden sich bei ausreichender Durchlässigkeit des Deckgebirges Stalakmiten (Bo­den­zapfen) und Stalaktiten (Decken­zapfen). In der Mammoth Cave sind sie jedoch nur an weni­gen Stellen ausgebildet.

Diese werden durch mehrere Touren von unter­schied­licher Dauer und wechselndem Schwierigkeitsgrad erschlossen. Wir hatten bisher höchst selten die Gelegenheit in den Untergrund hinabzusteigen und so entschließen wir uns gleich an mehreren Höhlenexkursionen teilzunehmen.

 

Unten angekommen, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Die Fülle an Rei­zen, die die Oberfläche schier überfluten, ist auf ein Minimum be­schränkt. Ganzjährig herrscht eine Temperatur von etwa 12 Grad Celsius, Jah­reszeiten finden kaum statt. Für zwei, drei Minuten löscht die Rangerin das Licht und bittet alle Besucher zu schweigen, um zu erleben was absolute Stil­le, was absolute Dunkelheit bedeuten. Wir sollen uns die Hände vor die Augen halten und versuchen irgendetwas zu erkennen, doch man sieht wirklich nicht den geringsten Schatten. Am Eingang der Höhle wurden wir aufge­fordert uns die Nordrichtung gut einzuprägen. Nach wenigen Biegungen und ein wenig auf und ab sollen die Teilnehmer nun noch einmal nach Norden zeigen. Die Resultate sind aufschlussreich, die Angaben streuen fast 180 Grad.

 

Dominierende Bauelemente der Mammoth Cave sind, entsprechend ihrer Genese durch unterirdische Flusssysteme, lang gezogene Röhren von mehr oder minder rechteckigem Querschnitt. Innerhalb dieser Röhren bzw. Quader lösen schmale, niedrige Abschnitte, bequem begehbare Teilstrecken ab. Dann wieder steht man unversehens in ausgedehnten Kammern, welche den schichtigen Aufbau der chemischen Sedimentgesteine gut erkennen lassen. Wo Sickerwasser infolge fehlenden Deckgebirges oder im Bereich von Erd­fällen, Spalten und Dolinen verstärkt am Bau des unterirdischen Labyrinths beteiligt ist, gewinnen die schon erwähnten Tropfsteinbildungen an Einfluss oder es entstehen vertikal orientierte, mehrere Zehnermeter hohe Zylinder, deren Dachregion gewaltige Kuppeln krönen.

 

Das wichtigste Medium zur Korrosion von Kalkstein ist das im Wasser gelöste Kohlendioxid (CO2). Das Wasser nimmt Kohlendioxid teilweise direkt aus der Atmosphäre, in stärkerem Maße jedoch beim Durchfließen der Humusschicht auf. Die Fähigkeit (Aufnahmekapazität) des Wassers Kohlendioxid zu lösen, ist umso größer, je höher der Druck und je tiefer die Temperatur ist. Die Lösung des Kalksteins (CaCO3) erfolgt dann in Abhängigkeit des aufgenommenen Kohlendioxids nach der Reaktionsgleichung:

 

CaCO3 + H2O + CO2 = Ca++ + 2(HCO3)-

 

Umgekehrt beschreibt diese Gleichung den Vorgang der Sinterbildung. Gibt das Wasser nämlich beim Eintritt in die Höhle oder bei Erreichen der Erdoberfläche infolge Druckentlastung oder Erwärmung CO2 ab, so wird der gelöste Kalk ausgefällt.

 

Während einer anderen Exkursion, der "Historic Tour", erfahren wir etwas über die frühen Besucher der Höhle. Da waren Waldindianer, welche sie vermutlich als Fluchtburg nutzten, die aber auch Gipsvorkommen abbauten. Wozu sie diesen Gips verwendeten, ist bis heute ungeklärt. Vor und während des amerikanischen Bürgerkrieges (1861 – 1865) beutete man die Nitratablagerungen der Höhle aus, denn sie bildeten einen wichtigen Grundstoff für die Produktion von Schießpulver. Und dann gab es, wie bei vielen tausend anderen Höhlen auch, die Entdecker und Erkunder, deren Unrast und Neugier immer neue Passagen zutage förderten.

 

Von der "Echo River Tour" sind wir ein wenig enttäuscht. Zum einen ist das Hin- und Her-Geschiebe auf dem etwa 15 bis 20 Meter langen Teilstück des Echo River kaum als Bootsfahrt zu bezeichnen, zum anderen sind viele Fakten des Vortrages aus vorhergehenden Exkursionen und Literaturstudium bekannt.

 

Schlendert man durch die von der Außenwelt scheinbar so isolierten Röhren und Hallen, dann könnte man glauben, es handle sich bei dem Biotop Mammoth Cave um eine von negativen Umwelteinflüssen weitgehend verschonte Welt, aber dem ist nicht so. Obwohl weit abgelegen von Industriestandorten und oberflächengeschützt durch die Einrichtung des Nationalparks, bereiten immer langlebigere chemische Verbindungen, die durch landwirtschaftliche Produktion und das dichter werdende Straßennetz in den Untergrund gelangen, zunehmend Besorgnis.

 

In einer verkarsteten Landschaft vermögen sich Schadstoffe, die mit dem Sickerwasser oder durch Flüsse in den Untergrund gelangen, stärker auszuwirken als anderswo. Das rührt daher, dass das Reinigungsvermögen eines Gesteins im Wesentlichen von der Fließgeschwindigkeit des Wassers und der beim Fließen überstrichenen Gesteinsoberfläche abhängt.

 

Ist die Fließgeschwindigkeit hoch und die überstrichene Fläche klein, wie in verkarstetem Kalkstein, dann ist auch das Reinigungsvermögen gering und Schadstoffe können in erhöhtem Maße infiltrieren. Sie bedrohen die eigenständige Fortentwicklung einer Fauna, welche bestens an die besonderen Bedingungen der Höhle angepasst ist.

 

Wie die Prozesse an der Erdoberfläche Einfluss auf das Geschehen in der Tiefe nehmen, so bleiben die Vorgänge "unten" nicht folgenlos für Entwicklungen "oben". "Fressen" CO2-haltige Wässer immer größere Hohlräume in den Gesteinsverband, so bricht an vielen Stellen irgendwann das Deckgebirge zusammen und zu Trockentälern gesellen sich natürliche Höhlen, Dolinen, kleine Tümpel und Seen, nackte Felswände und isolierte Plateaus. Diese morphologische Differenzierung der Landschaft stellt ökologische Nischen bereit und die Tier- und Pflanzenwelt reagiert mit einer entsprechenden Vielfalt im Artenspektrum.

 

Das geschieht wenig spektakulär, ihr Kommen und Gehen vollzieht sich im Stillen, spürbar nur für den, der sich intensiv damit beschäftigt. Deshalb ist es den Rangern stets ein besonderes Anliegen darauf hinzuweisen, dass eben nicht nur das Höhlensystem den besonderen Schutzstatus dieser Region rechtfertigt. Zwar kommen Fauna und Flora, weit weniger spektakulär daher als etwa im Yellowstone National Park, doch hat die verkarstete Landschaft einzigartig Lebewesen entstehen lassen, die unseren besonderen Schutz verdienen. So sind etwa bei einer ganzen Reihe der Höhlenbewohner Hautpigmente und Augen zurückgebildet und durch hochsensible Tastorgane ersetzt, die den Anforderungen in der ewigen Finsternis dienlicher sind.

 

Der Besuch im Mammoth Cave National Park war für uns eine sehr aufregende Erfahrung in einer Welt, die uns in der Regel verschlossen ist. Darüber hinaus hatte diese Station unserer Reise den Charakter eines Bildungsurlaubes. Denn wir haben viel gelernt und sehen diese „Unterwelt“ nun mit anderen Augen.

Aufbruch nach Westen

Vor uns liegt eine der längsten Strecken, die wir im Verlauf dieser Reise be­wäl­tigen müssen. Zunächst gilt es jedoch in aller Ruhe zu früh­stücken, Zeit ist schließlich das einzige, was in fast unbegrenz­ter Menge zu Verfügung steht. Angelika macht frenchtoast, brüht den Kaffee und reicht auch ein Glas des wohl­schmeckenden Oran­gen­saftes, der hier drüben üblicherweise zum Früh­stück serviert wird. Dann heißt es alles ordentlich sauber zu machen und gut zu verstauen, um unangenehme Überraschungen während der Fahrt zu ver­mei­den. An der erst besten Tankstelle werden noch einmal Öl, Kühlwasser und Sprit aufgefüllt, unglaublich, aber die Kiste nimmt von allem viel, und los geht es in Richtung Rocky Mountains.

 

Nach drei Stunden wenig abwechslungsreicher Fahrt über Landstraßen tref­fen wir nördlich Evans­vil­le /Indiana auf die Interstate 64. Bevor ich recht zum Beschleunigen komme, zeigt der Tacho schon die erlaubten 55 Meilen Höchst­geschwindigkeit, also langsam mit dem Fuß am Gaspedal. Nach einigen Wochen Praxis lässt es sich mit dem "speed limit" eigentlich ganz gut leben, man gewinnt ihm sogar manch positiven Aspekt ab. Nur heute, mit fast 2000 km Strecke vor Augen, ist es lästig und allein die Furcht, auf unnütze Weise sein Geld an die highway patrol zu verlieren, besänftigt.

 

Auf dem Interstate gähnende Leere, für den Gleichschritt der wenigen Fahr­zeuge sorgen die 55 Meilen. Gemächlich fließt der Verkehr in die dünn besie­del­ten Landstriche des Mitt­leren Westens. Riesige Maisfelder auf beiden Seiten der Straße, Monotonie in Grün. Über dem Mais steigt flimmernd Warmluft auf. Mitten im Maisozean vereinzelte Ge­höfte in falunrot, die Erinne­rungen an Skandinavien wecken. Fenster und Lüf­tungs­klap­pen sind bis zum Anschlag geöffnet, reichen jedoch nicht aus. Kühlung tut not! Angelika legt die Beine hoch, versucht es sich so ein wenig behaglich zu machen. Ich rich­te derweil tote Rennen mit unseren Nachbarn zur linken aus, mal sind die schnel­ler, mal hole ich sie wieder ein. Kleine Grüppchen von Fahrzeugen blei­ben viele Meilen lang zusammen. Mitunter wird es einem auch schon mal zu bunt, er schert aus, eilt hunderte Meter davon und schließt sich weiter vorn ei­ner anderen Gruppe an. So geht das stundenlang immer geradeaus. Ein­mal schreckt uns jemand, wild hupend und gestikulierend, auf. Erst denke ich, mit dem Wagen ist etwas nicht in Ordnung, doch dann springt mir sein Kennzeichen ins Auge - der Gute kommt wie unser Gefährt aus dem Garden State, also aus New Jersey und hält uns vermutlich für Landsleute.

 

In St. Louis passieren wir den Mississippi, ein Flüsschen, verglichen mit dem Strom der südlich New Orleans in den Golf mündet. Sekundenlang beein­druckt das unmittelbar am Flussufer aufgebaute monumentale "Tor zum Westen", dann fliegt es an uns vorbei. Mir schlafen langsam aber sicher die Füße ein, deshalb übernimmt Angelika jetzt mal das Steuer. Zu dumm, dass der Van keinen Tempomat besitzt, darauf hätten wir beim Kauf unbedingt achten sollen.

 

Seit New York hat sich keiner von uns beiden mehr so richtig um Buch­füh­rung und Fi­nan­zen gekümmert, höchste Zeit, das endlich einmal nachzu­holen. Wie befürchtet zeigt der Kassensturz, dass wir in den ersten Wochen über unsere Verhältnisse gelebt haben. Zweihundertfünfzig Dollar pro Woche sind einfach zu viel, wenn das so weiter geht, wird unser Budget vor der Zeit auf­gebraucht sein. Immerhin sind die Gründe dafür schnell gefunden. Zu we­nig Erfahrung beim Einkauf, ständiges Übernachten auf Campingplätzen und Trailerparks, ho­her Ben­zinverbrauch überdurchschnittlich lange Fahrten und die zahl­rei­chen Ex­kur­sionen in den östlichen Nationalparks. Die Fahrtstrecken werden jenseits der großen Prärien deutlich kürzer werden, damit bleiben als dickste Brocken die Über­nach­tungen. Hier müssen wir ansetzen!

 

Wegen des nächtlichen Vorfalls in Maryland zögern wir immer noch, außerhalb von Trai­ler­parks zu nächtigen, das soll nun anders werden. Abhilfe können hier so­wohl die Rastplätze an den Interstates, als auch die zahlreichen Tankstellen und Supermärkte zu beiden Seiten der großen Ausfallstraßen mittlerer Städte schaf­fen. Im ländlichen Raum bieten sich die sehr preisgünstigen Campgrounds in den National Forrests an. Ob dieses Sofort­pro­gramm ausreicht, wer­den wir sehen.

 

Unser Tripp durch den mittleren Westen ließe sich bequem in 3 bis 4 Tagen absolvieren. Die Rockies im Hinterkopf und die Agrarwüste vor Augen ma­chen wir jedoch Dampf. Und so fahren wir bis spät in die Nacht, hauen uns dann für einige Stunden auf einem der Autobahnparkplätze aufs Ohr und bre­chen erneut auf.

 

In den Morgenstunden erreichen wir etwas übermüdet nach weiteren Stunden monotonen Interstate­ge­plän­kels Kansas City und haben damit gut die Hälfte des Weges hin­ter uns gebracht. Wir entschließen uns, der Neugier halber, zu einem kur­zen Abstecher in die nordöstlichen Vororte der Stadt. Ein Fehler, wie sich bald herausstellt. Vorbei immerhin erst einmal das ewi­ge geradeaus fahren! In weitem Rund geht es durch scheinbar immer gleiche Aus­fall­straßen mit Ge­braucht­wagenhändlern, Einkaufszentren, Supermärkten, Tankstellen und Wäldern von Reklametafeln. Wir ha­ben keinen Sinn dafür, denken nur noch ans Kilo­meterfressen, fluchen über die zahl­losen Ampeln, welche Zeit kosten, den ganzen Fahrplan auf den Kopf stellen und uns mit­unter in Verlegenheit bringen. Sie hängen nämlich, besonders in den Vororten und kleinen Städt­chen, oft mitten über der Kreuzung und da wir von zuhause aus gewöhnt sind, bis an die Verkehrslichter heranzufahren, steht die Karre gelegentlich halb auf der Kreuzung, blockiert den Verkehr und verursacht einiges Kopf­schütteln. Die wissen ja nicht, woher wir kommen.

 

Obwohl die rush hour noch gar nicht begonnen hat, verheddern wir uns, übernächtigt und unkonzentriert wie wir sind, im Straßenwirrwarr Kansas Citys und haben einige Mühe auf den rechten Weg zurückzufinden. Am Rande der Straße beherrschen gewaltige Korn­speicher die Szenerie, Symbole jahr­zehnte­langer Prosperität und des ländlichen Wohlstands, aber auch künstlich übersteigerter Fruchtbarkeit, die den Böden den letzten Halm abringt. Dann kommen wir vor einem der vielen unbeschrankten Bahn­über­gänge, ausgestattet nur mit weißen Andreas­kreuzen und Rotlicht zum Ste­hen. Bei uns zuhause hätte man vermutlich längst Unter­füh­run­gen ge­baut. Hier reicht dieses absolute Mindestmaß an Sicherheitsvorkehrungen of­fen­bar aus. Es stimmt ja, dass man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten rück­sichts­voller, umsichtiger fährt, als im alten Europa. Vermutlich wird auch die Zahl der Züge geringer sein und die Strecken sind wesentlich besser einzusehen, weil hier eben noch nicht jeder Quadratmeter Boden zubetoniert ist. Und doch überrascht es angenehm, wenn man sieht, wie selten hier et­was passiert.

 

Auch wenn ich ein wenig gereizt bin und so manche Ampel zum Teufel wün­sche, üben diese Rotlichter auf weißen Andreaskreuzen eine magische An­zie­hungskraft auf mich aus. Das stählerne Netz­werk, die Trasse von nirgendwo nach nir­gend­wo weckt Fern­weh. Unzählige Male schon, beschwor ich die roten Leuchten geradezu, das Heran­na­hen eines Zuges anzukündigen. Geschieht es dann wirklich, folgen meine Augen mit kindlicher Neugier dem Schie­nen­strang in die Ferne bis sie auf den hellerleuchteten, bullaugengroßen Front­schein­werfer der Dieselelektrischen Lokomotive stoßen, welche mit mä­ßi­ger Geschwindigkeit, doch un­auf­halt­sam näher kommt. Zweihundert Meter vor dem Übergang ein mächtiger Stoss aus dem Horn, als letzte Warnung und schon rollt die Spitze der metallenen Anaconda an uns vorbei. Auf zwei, drei, oder vier Lokomotiven folgen manchmal gefühlte ein­hundert­fünfzig rat­tern­de und schlagende Güterwaggons unterschiedlichster Herkunft und Bau­art. Ein Hauch von Woody Guthrie, von Hobos und Dustbowls, schießt es mir romantisch verklärend durch den Kopf als der letzte Wagen die Straße freigibt, um in die schier unendliche Weite des Westens einzutauchen. Da Angelika solche infantilen Anflüge regelmäßig mit einer gehörigen Portion Spott begleitet, stehe ich danach sehr schnell wieder mit beiden Beinen auf der Erde.

Eine der typischen dieselelektrischen Lokomotiven.

Und doch wäre ich gerne einmal Hobo, möchte im Schutz der Dunkelheit auf einen der Züge aufspringen, mich an das halbgeöffnete Tor eines Stückgutwaggons setzen, beim Sonnenuntergang die atemberaubende Landschaft der inneren Rockies an mir vorbeiziehen lassen ohne jede Vorstellung, wohin die Reise gehen könnte.

 

Heute geht es ja bei den Hobos in aller Regel nicht mehr um die nackte Existenz, wie in der Hochzeit dieser Spezies in den 1930er Jahren. Ausgelöst durch mehrere Dürren und eine falsche Bearbeitung des Bodens fegten damals gewaltige Staubstürme über weite Landstriche des Mittleren Westens, trugen großflächig die fruchtbare Ackerkrume ab und entvölkerten ganze Landstriche. Weil Oklahoma besonders stark von diesem Phänomen betroffen war, belegte man die so Entwurzelten auch mit dem Synonym Okies.

 

In den dünn besiedelten Weiten blieb diesen Okies oft nichts übrig als sich zu Fuß auf den Weg zur nächsten Bahnlinie zu machen und mit einem der vielen Güterzüge den Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft anzutreten. Wenn diese Entwurzelten schließlich strandeten, waren sie, wenige Jahre nach der Weltwirtschaftskrise, abgebrannt und mittellos und selten willkommen. Viele verdingten sich als Tagelöhner auf den Obstplantagen in Kalifornien, wo das Überangebot an Arbeitskräften die ohnehin kargen Löhne noch weiter drückte, so dass es zu sozialen Unruhen kam. Das zähe Ringen der Okies beschrieb John Steinbeck eindrucksvoll in seinem Roman „Früchte des Zorns“ und Woody Guthrie thematisierte den Alltag dieser Geknechteten in seinen Dust Bowl Ballads.

 

Heute scheint dies alles weit weg und man könnte meinen nur noch Abenteurer würden gerne einmal diese verbotene Frucht kosten. Aber immer noch gibt es genügend Menschen, die mit dem Zug von Metropole zu Metropole reisen, immer hoffend einmal den richtigen Zug zu erwischen, der sie wieder in Arbeit und Brot bringt. Doch je länger sie unterwegs sind, umso mehr schwindet ihre Zuversicht und schlägt bei so manchem modernen Hobo in Resignation um. Also sind auch eine ganze Reihe schräger Typen auf den Zügen unterwegs, von denen die religiösen Eiferer und die Hoffnungslosen, die sich während ihrer langen Wanderschaft einfach nur die eine oder andere Macke zugelegt haben, noch zu den harmlosen Zeitgenossen zu rechnen. Aber es gibt auch Gestalten, die keine Hemmungen haben Mitreisende, die vermeintlich ein wenig mehr als gar nichts in ihren Rucksäcken mit sich führen zu bedrohen, auszurauben und im schlimmsten Fall umzubringen. Dies überdenkend empfinde ich unsere eigene kleine Blechbüchse, doch wieder als recht angenehm. 

 

Nach einer mehr als einstündigen Irrfahrt, die uns Kansas City nicht wirklich näher gebracht hat, finden wir zur Interstate 29 zurück, die uns nun für mehr als 250 Meilen immer dem Lauf des Missouri folgend nach Nordwesten führt. Wir lassen St. Joseph hinter uns, passieren Council Bluffs und erreichen schließlich Sioux City. Zwanzig Meilen nordwestlich Sioux City verlassen wir die Interstate und halten auf Yankton/South Dakota zu, das nach einer halben Stunde Fahrt auftaucht. In dem nahegelegenen State Park wird das Nachtlager aufgeschlagen. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0